Es wurde gesagt, dass man sich in der geistigen Welt mit den Dingen und Wesenheiten vereinigen muß. Wenn diese Dinge und Wesenheiten nun in der Zeit fern von einem liegen, dann muß man zu ihnen hingehen, um sich mit ihnen zu vereinigen. Man muß zurückgehen, man muß die Zeitlinie abschreiten wie eine Linie im Raum, um sich mit den Wesen und Dingen vereinigen zu können. Man kann sagen, daß sich in Bezug auf die Seelenfähigkeit des Gedächtnisses die Zeit zu einer Art von Raum verwandelt, sobald man die geistige Welt betritt. Also das Gedächtnis ist für den Geistesschüler eine wesentlich neue Fähigkeit geworden. Er sieht ein vergangenes Ereignis so, wie wenn es in der Gegenwart noch da wäre, und er beurteilt die Zeit, die vergangen ist, nach der Distanz, in der es getrennt von ihm ist. So daß sie daraus entnehmen können, daß die Vergangenheit für den Geistesschüler sich hinstellt wie etwas, was räumlich nebeneinander steht. Es ist tatsächlich, wenn diese Form des Gedächtnisses errungen ist, das Forschen in der Vergangenheit wie ein Ablesen der stehengeblieben Ereignisse. Man nennt dieses Ablesen der stehengeblieben Ereignisse das Lesen in der Akasha-Chronik. Es ist eine Welt, in der Zeit zum Raum geworden ist. Wie man unsere Welt, in der wir leben, als die physikalische Welt bezeichnet, so kann man die Welt, in der die Zeit zum Raum geworden ist, als die Akasha-Welt bezeichnen. Das verändert die ganze innere Seelenfassung des echten, wahren Mystikers, denn was im gewöhnlichen Leben Zeit genannt wird, gibt es hier garnicht mehr....
Es muß ein bestimmter Einklang bestehen zwischen der Logik des Herzens und dieser eben beschriebenen Art des Gedächtnisses, geradeso wie ein Einklang besteht zwischen der Logik des Kopfes und dem Gedächtnis des gewöhnlichen Bewusstsseins...
Denn die Logik des Herzens ist etwas viel geistigeres als die Logik des Kopfes, und unser Herz ist nicht in demselben Grade physisches Organ für das Denken des Herzens, wie unser Gehirn physisches Organ für das Denken des Verstandes. Aber ein Gleichnis liegt uns in gewisser Weise doch in unserem physischen Herzsystem vor. Wenn nämlich das Denken des Herzens die Zeit in den Raum verwandelt, so muß man in dem Augenblick, wo man in die geistige Welt eindringt, eigentlich mit seinem ganzen Wesen fortwährend herumwandern, muß in einen fortwährenden Kreislauf begriffen sein...
So also blicken wir, indem wir aufsteigen zu dem Begreifen eines höheren Bewußtseins, förmlich in einen anderen Raum hinein, in einen Raum, den das gewöhnliche Bewußtsein gar nicht kennt, in einen Raum, der dann entstehen würde, wenn der Zeitenfluß immer gerinnen würde. Denken Sie: Wenn Sie dasjenige vor sich haben wollten, was Sie gestern erlebt haben, dann müßte ein Augenblick dessen, was gestern erlebt worden ist, wie erstarrt sein. Im nächsten Augenblick ist die ganze Welt schon wieder anders; der Augenblick, der jetzt ist und schon wieder nicht ist, müßte sozusagen wie in einer Moment-Photographie festgehalten werden. Jeder Augenblick müßte so festgehalten werden, und dann müßten diese aufeinander folgenden Photographien nebeneinander im Raum aufgestellt werden. Dann hätten Sie das, was der Geistesforscher tatsächlich lebendig vor sich hat. Nicht nur den gewöhnlichen Raum hat er vor sich, sondern einen Raum, der ganz anderer Natur ist. Ein solcher Raum unterscheidet sich ganz wesentlich von dem Raum, in dem wir gewöhnlich leben. Sie können unmöglich in dem gewöhnlichen Raum ein Abbild des geistigen Raumes entwerfen. Denn wenn Sie den physischen Raum nehmen und versuchen, irgendwohin eine Linie zu ziehen, so können Sie diese Linie nur innerhalb dieses Raumes ziehen. Sie kommen gar nicht über diesen Raum hinaus. Sie können also dasjenige, was der Geistesforscher im geistigen Raum durchschreitet, gar nicht in den gewöhnlichen Raum hineinzeichnen. Dem Geistesforscher wird die Zeit zum Raum, in dem er von einem Punkt zum andern Punkt schreitet.
Rudolf Steiner: Mikrokosmos und Makrokosmos; Zehnter Vortrag, Wien 1910
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