"Über allem Sein und allem Geschehen waltet unbedingt, unerbittlich, unabänderlich das Schicksal, die Wurt.
Von ihm weiß der Germane sich schlechthin abhängig.
Dieses Abhängigkeitsbewußtsein gegenüber dem Schicksal ist für ihn keine fest umgrenzte, einmalig formulierte, starr bestimmte dogmatische Überzeugung, kein kirchlicher Lehrsatz, der geglaubt werden müßte und der bewiesen werden könnte; es ist ihm eine selbstverständliche innere Überzeugung, eine ganz einfache und darum unerschütterliche Gewißheit, eine unumstößliche Tatsache des wirklichen Lebens.
Daher macht sich der Germane keine genaue und bestimmte Vorstellung über Art, Wesen, Sein und Wirkungsformen des Schicksals.
Nur das Eine ist für ihn selbstverständlich und für uns bemerkenswert: Er verbindet mit dem Schicksal keinerlei anthropomorphe Vorstellungen; er legt ihm keine menschlichen Wesenszüge, Eigenschaften, Leidenschaften, Fähigkeiten bei; er faßt es ganz und gar unpersönlich, un-menschlich im ursprünglichen Sinn dieses Wortes.
Dieser Schicksalsglaube ist die tiefste, geheimste weltanschauliche Kraftquelle, aus der heraus der Germane lebt. Das Schicksal stellt den Menschen auf seinen Platz im Leben und schafft ihm seine Lebensbedingungen.
Das Schicksal ist Herr über Leben und Tod; es hält die Entscheidung über Sieg oder Niederlage, über Dauer oder Untergang, über Treue oder Verrat in seiner unzugänglichen Hand.
Die Gestaltung seines Lebens wie der Ausgang der Unternehmungen seines Tatendrangs hängen für den Germanen von ihm und ihm allein ab.
Aber der Germane fürchtet sich vor diesem unabänderlichen und unvorhersehbaren Ratschluß des Schicksals nicht.
Er verzichtet nicht ergeben auf die Durchsetzung seines eigenen Willens; er wartet nicht stumpf, bis sich die gewaltige Faust des Schicksals ballt und ihn zermalmt - mit dem Schwert in der Hand geht er ihm in kraftvoller Gefaßtheit und todesmutig, ja manchmal sogar lachend entgegen.
Denn er weiß: Nichts kann ihm geschehen, was das Schicksal nicht will; alles, was mit ihm und was durch ihn geschieht, ist Wille des Schicksals.
Darum ist es unabwendbar; darum aber ist es auch notwendig und darum ist es gut.
Die uns überkommenen Trümmer der altgermanischen Dichtung fangen in ihrem durch spätere Eingriffe oft zerbrochenen Spiegel reine Strahlen dieser trotzigen, selbstbewußten, innerlich wahrhaft großen Haltung des germanischen Menschen auf.
Die Götter aber sind dem Walten dieses eigentümlich starr, unkörperlich, ja geradezu wesenlos gefaßten Schicksals genau so unterworfen wie die Menschen.
Trotz ihrer übermenschlichen Kräfte vermögen sie wider das Schicksal ebensowenig wie der Mensch.
Das Schicksal schafft sie, bestimmt ihren Götterweg und ihre göttliche Wirkung und wirft sie weg und zerbricht sie, wenn es das beschlossen hat.
Denn dieser Schicksalsglaube der Germanen ist von tiefer Tragik durchwirkt: Jene dichterische Schau vom Untergang der Welt in einem riesigen Weltbrand, der alles Erdreich, Tier, Mensch und Gott verschlingt und nichts übrig läßt, wie sie die Snorra-Edda in großartiger Krönung und Vereinseitigung allgemein germanischer Glaubensvorstellungen auf nordgermanischem Boden gestaltet hat, hat diese tragische Grundstimmung germanischer Weltsicht allgemeiner bekannt gemacht.
Aus ihrem düsteren Hintergrunde tritt die ungebrochene Festigkeit germanischen Mannesmuts, der überschäumende Tatendrang germanischen Unternehmungsgeistes leuchtender als Ausdruck einer ungewöhnlichen seelischen Kraft des Menschen hervor!"
💐-Fritz Tschirch, 16.02.1901 in Königs Wusterhausen – 18.02.1975 in Euskirchen-Schweinheim-
@DeutscheDD